Ich erinnere mich - oder: Gedanken am 8. Mai 2024

 

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Ich erinnere mich:

- An den Mann mit der Lederhand, der regelmäßig an unserer Tür klingelte mit seinem großen Koffer, aus dem er uns was verkaufen wollte - uns, die wir Anfang der 60er Jahre doch selbst nichts hatten.
- An die vielen Männer, die durch die Straßen hinkten, weil sie ein Holzbein hatten. Der Krieg hatte ihnen ein Bein genommen. Und damit waren sie noch gut dran, denn sie hatten noch ihr Leben.
- An die Frau, die ihre Kinder alleine großzog und 1x im Monat zum Treffen der Kriegerwitwen ging.
- An den Alten, der im Krieg ein Sozi war, sein Sohn aber in der SS. Und wie der Sohn vorm Vater gestanden und gedroht hatte: wenn ich dich verpfeife, dann landest du im KZ und kommt nie wieder raus. Und der Vater sagte: mach doch - und sieh zu, wie du dann damit fertig wirst.
- An die Frau, deren Lächeln gefror, wenn die Enkelin in alten Fotos wühlte und eins fand mit einer wunderschönen, jungen Frau darauf. Eine liebevolle Widmung auf der Rückseite. Wer ist das, Oma? Ach, niemand. Opa war in Rumänien in Gefangenschaft, da war diese Frau. Sie ist niemand. 
- An die demente Frau, die nichts mehr wusste aus der Gegenwart, aber immer wieder die Geschichte von ihrer Freundin erzählte, die von einer Gruppe russischer Soldaten über Stunden vergewaltigt worden war und danach geradeaus in die eiskalte Ostsee lief. Ihre letzten Worte: das werde ich nie im Leben wieder los, diese Schande. 
- An den alten Mann, der auf meine Frage, ob er denn auch die Dokumentation über den Kessel von Stalingrad im Fernsehen anschauen würde, mich nur mir leeren Augen ansah. Und seine Frau ihm mit Worten aushalf: seit wir uns kennen - seit über 60 Jahren - wird mein Mann jede Nacht schreiend und von Albträumen gequält wach.
- An die Klassenfahrt nach Berlin in den 70er Jahren, wo es nicht nur eine gruselige Grenze gab, sondern auch Häuser, die immer noch zerbombt, zerschossen, unbewohnbar waren. 
- An die alte Frau, die in einem Kriegsjahr 2 Söhne und 1 Tochter verlor - und trotzdem ihr Leben irgendwie weiterlebte.
- An Geschichten aus der jüdischen Gemeinde von ausgerotteten Familien damals und neuer Gewalt und neuem Antisemitismus heute.
- An Geschichten von einer brennenden Stadt, von Nächten in Kellern, von Fliegeralarm, von Angst, die einen nicht mehr losließ.
- An meinen Vater, der als Kind immer Holzschuhe trug, dann aber gebrauchte Lederschuhe bekam. Und sich ein Leben lang fragte: Wem haben diese Schuhe gehört? Einem jüdischen Kind, das man vergast hat?
- An Geschichten von schulfrei, weil auf dem Marktplatz ein Kriegsgefangener erschossen wurde. Er hatte vor Hunger vom Acker Kartoffeln gestohlen, die durch den Frost ungenießbar geworden waren.

Ich erinnere mich, und das sind nur einige Gedanken, die mir heute Abend durch den Kopf gehen. Heute ist der 8. Mai. Tag der Erinnerung an das Kriegsende in Deutschland.
Ich erinnere mich und weiß: das will ich nicht wieder erleben. Nie wieder Krieg. NIE WIEDER. Und trotzdem zündeln so viele mit dem Frieden, säen Hass und Hetze. Wie ist es möglich? Weil sie keine Erinnerungen haben? 

Aus dem Propheten Micha, Kapitel 4: Ein Traum vom kommenden Friedensreich

... Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 
4 Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des HERRN Zebaoth hat’s geredet. 5 Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des HERRN, unseres Gottes, immer und ewiglich! 




Kommentare

  1. Ich erinnere mich an Tante S. mit dem Holzbein. Wie fasziniert war ich als Kind, wenn sie es sich morgens anschnallte, und abends stellte sie es dann in die Ecke. Und dann die Geschichte dazu wie sie ihr Bein verlor. Während eines Bombenangriffs hat sie sich auf ihre kleine Tochter geworfen. Das Leben ihrer Tochter hat sie gerettet, aber ihrer Beider Psyche? Ihr Mann kam aus dem Krieg nicht zurück. Die Katastrophen die sich durch diese Familie im Nachhinein gezogen haben waren fürchterlich. Ob sie damals schon ihren Anfang nahmen?

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  2. Hab' ich heute erst gelesen und dem kleinen Mädchen von damals, mittlerweile bald 81 J. alt, weitergeleitet. Am Montagnachmittag treffen wir uns zum Kaffee.

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