Der Apfelbaum der alten Dame oder: Vom Geben und Nehmen
Erkennst du es auf dem Foto? Etwas im Hintergrund, da steht er: der große, alte Apfelbaum. Er steht im Garten der alten Dame.
Letztes Jahr bog er sich unter der Last der Äpfel. Auf dem Mäuerchen vor dem Haus waren in einem Karton immer Äpfel abgelegt. Köstliche Klaräpfel, die du in keinem Supermarkt kaufen kannst, weil sie nicht lagerfähig sind. Über Wochen habe ich immer wieder ein paar Äpfel eingesteckt, denn ein Pappschild mit der Aufschrift "Bitte mitnehmen" ermutigte mich und alle in unserer Straße dazu. Was für feine Äpfel waren das. Wir haben sie einfach so weg geknuspert, haben Apfelpfannkuchen daraus gemacht, auch mal einen kleinen Apfelkuchen. Jeden Tag lagen wieder neue Äpfel da. "Bitte mitnehmen".
Ich habe nach ca. einer Woche, in der ich mich an den Früchten bedient hatte, eine Packung Schokolade gekauft, Danke heißt Merci, wisst ihr ja. ;-) Einen Brief habe ich dazu gelegt, dann an der Haustür geklingelt. Ich hatte noch nie einen Menschen in dem Haus gesehen, aber es musste ja jemand da sein, schließlich lagen immer neue Äpfel da.
Auf mein Klingeln öffnete niemand, also legte ich die Schokolade auf die Türschwelle.
Ein paar Wochen später hörte ich: die alte Dame, die über Jahrzehnte in dem Haus gewohnt hatte, war schon lange bettlägerig gewesen und letztens gestorben.
Sie ist nicht mehr, ihr Haus steht seit ihrem Tod leer. Aber ihr Apfelbaum hat wieder geblüht: ein weißes Blütenmeer.
Wer wird wohl in dieses schöne, alte Haus einziehen? Wer wird die Äpfel dieses Jahr ernten? Wird wieder ein lieber Mensch draußen auf dem Pfeiler Äpfel für uns alle ablegen? Einfach so zum Mitnehmen? Wird es wieder so eine liebevolle Großzügigkeit geben, von der viele profitieren?
Ein Bibelwort fällt mir ein, das die Alten in unserer Familie oft zitierten: Geben ist seliger als Nehmen. Apostelgeschichte 20,35.
Fontane fällt mir ein mit dem Gedicht, das ich mal auswendig gelernt habe. Von dem liebevollen alten Mann, der großzügig teilte und weitergab - und es kam zurück, weil Großzügigkeit immer zurück kommt. Und sei es als liebevolle Erinnerung.
Herr
von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem
Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und
die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag
vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,
Und
kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: »Junge, wiste 'ne
Beer?«
Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,
Kumm
man röwer, ick hebb 'ne Birn.«
So
ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu
sterben kam.
Er
fühlte sein Ende, 's war Herbsteszeit,
Wieder lachten die
Birnen weit und breit;
Da sagte von Ribbeck: »Ich scheide nun
ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.«
Und drei Tage
drauf, aus dem Doppeldachhaus,
Trugen von Ribbeck sie
hinaus,
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen
»Jesus meine Zuversicht«,
Und die Kinder klagten, das Herze
schwer:
»He is dod nu. Wer giwt uns nu 'ne Beer?«
So
klagten die Kinder. Das war nicht recht -
Ach, sie kannten den
alten Ribbeck schlecht;
Der neue freilich, der knausert und
spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der
alte, vorahnend schon
Und voll Mißtraun gegen den eigenen
Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine
Birn' ins Grab er bat,
Und im dritten Jahr aus dem stillen
Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.
Und
die Jahre gingen wohl auf und ab,
Längst wölbt sich ein
Birnbaum über dem Grab,
Und in der goldenen
Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt
ein Jung' übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: »Wiste
'ne Beer?«
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: »Lütt
Dirn,
Kumm man röwer, ick gew' di 'ne Birn.«
So
spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im
Havelland.
Liebe Grüße von Heike Schmid
😍
AntwortenLöschenSchade, dass ihr euch nie kennengelernt habt- sowohl du sie nicht- und wie schade, dass sie dich nicht kennengelernt hat. Wär so schön gewesen.
AntwortenLöschenAber sie hat sich ganz bestimmt gefreut über Deinen lieben Brief! Und die Schokolade 🍫
Merci liebe Heike, merci, Chérie😘