Solitüde oder: unterschätze niemals alte Menschen!

So ganz geheuer ist mir der  Flensburger Strand Solitüde nicht. Wenn man dort von der Badebrücke ins Wasser geht, hat man keinen Grund unter den Füßen. Es ist sofort sehr tief. Ich liebe ja Badestellen mit Bodenkontakt. Da kann ich meine Füße sehen, aber auch das Umfeld: die Quallen, Krebse, Steine, Muscheln und Pflanzen. Außerdem kann ich bei starker Strömung zurück laufen. Das ist am Strand Solitüde alles nicht möglich. Trotzdem gehe ich da schwimmen, denn den kann ich per Fahrrad erreichen. Er ist nur ca. 5 km entfernt. 

Auf Badebrücken finden mich Geschichten. Diese Woche auch wieder. 

Ich fand mich sehr mutig, als ich flott ins Wasser hinunterging. Vorsichtig paddelte ich vor mich hin. Immer auf der Hut, ob sich nicht doch eine Feuerqualle näherte. Und in großem Respekt vor eventuellen Strömungen. 

Auf einer Bank auf der Badebrücke saß ein sehr, sehr alter Herr.  Er zog seine grün-beige Hose aus, seine beigen Socken, knöpfte sehr langsam sein Hemd auf. Verstaute alles wahnsinnig umständlich. Er saß da in einer Badehose, die quasi bis zu seinen Brustwarzen reichte. Dann erfolgte die Prozedur mit den Hörgeräten: eins nach dem anderen wurde vorsichtig entnommen und in ein Kästchen gelegt. Ich beobachtete vom Wasser aus, wie der Mann vorsichtig aufstand und langsam zur Metalltreppe lief, die ins Wasser führt. Leider gibt es nur auf einer Seite einen Handlauf. Wackelig stieg der Mann die ersten Stufen hinab. Ich war voller Mitleid und überlegte bereits, wie ich ihn unterstützen könnte. Da machte der uralte Herr einen Kopfsprung ins Wasser und kraulte los. 
Ich weiß nicht genau, wie lange mein Mund vor Erstaunen offen stand. 
Er kraulte eine lange Strecke geradeaus ins noch viel tiefere Wasser, im Rückenkraul kam er zurück, er tauchte - und dann begann das Ganze von vorn. Auf einmal kam mir mein vorsichtiges Planschen sehr erbärmlich vor. Und ich schämte mich, weil ich mich bei einem handfesten Vorurteil dem Alter gegenüber erwischt hatte.
 
Dabei setze ich mich so sehr ein für ein neues, zeitgemäßes Altersbild. Das Alter ist bunt, divers, fröhlich anders, vielfältig. Es gibt jede Menge Chancen, im Alter neue Lebensentwürfe zu verwirklichen, neue Wege auszuprobieren, sich einzubringen in die Gesellschaft mit vielleicht bisher brach liegenden Fähigkeiten. Wir können alles sein: Großmutter-Au-Pair in Indonesien oder Bagpacker in Schottland. Wir können vor Ort unsere Familien unterstützen oder Patenschaften auf Zeit für Kinder und Jugendliche übernehmen, mit denen wir nicht verwandt sind. Wir können zig Ehrenämter übernehmen, wir können eine Firma gründen, neue Geldquellen erschließen oder das ganze Leben auf einem Kreuzfahrtschiff verbringen, wenn das Geld dafür ausreicht. Leben im Alter will gelebt werden mit viel Phantasie. Mein Kopf ist voll von diesen Gedanken. Alter ist mein Thema. Aber dem alten Herrn hatte ich nichts zugetraut, im Gegenteil: ich hatte ihn im Kopf als Tattergreis abgestempelt.
Der hat's mir aber gezeigt. Unterschätze niemals alte Menschen!

Langsam krabbelte der Mann zurück auf die Brücke und ließ sich zufrieden in der Sonne trocknen. Etwas später verließ ich das Wasser, trocknete mich ab und zog mich an. Wir lächelten uns an und wünschten einander einen schönen Sonnentag.

Mose war hundertzwanzig Jahre alt, als er starb. Seine Augen waren nicht schwach geworden und seine Kraft war nicht verfallen. (5. Mose 34,7)

 

Kommentare

  1. Wie erfrischend diese Geschichte 😄

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  2. Tolle Geschichte und so wahr. Es bestürzt mich jedes mal wieder wenn mein Sohn sagt, Mama kannst du das noch wohl, oder unsere Tochter Mama, wie alt bist du eigentlich. Was heißen soll, das kannst Du doch nicht mehr. Dabei bin ich 70 Jahre jung.

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    1. Mit 70 bist du jung - lass dir nix anderes erzählen. Und schicke deine Kinder in ein Seminar über das neue Altersbild. Drück ihnen Bücher in die Hand: "Wenn ich einst alt bin, trage ich mohnrot" zum Beispiel. Melde dich und die Kinder an in der Facebook Gruppe "Wie du frech, wild und wunderbar jung bleibst", nimm sie mit auf Konzerte von den Rolling Stones, Mick Jagger ist über 80 und tobt immer noch über die Bühne. Und zeig den Kindern die tollen Bilder vom Fotowettbewerb „VielfALT“ https://www.bagso.de/themen/vielfalt/fotowettbewerb?fbclid=IwAR1rUEfEwazHODw729o_RdRy99O7urlqSvQ6iZNnCzY6ef10q_KP5huELNs BMFSFJ. Das könnte erst mal helfen. ;-) Nicht aufgeben. Liebe Grüße von Heike Schmid

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  3. Liebe Heike, ich finde deine Ansichten über das Alter erbaulich. Von Vorurteilen kann sich niemsnd freisprechen. Auch wenn ich mir große Mühe gebe, erwische ich mich auch dabei. Wir sind halt Menschen.

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    1. Ich würde so gerne sagen, ich wäre in Bezug auf das Alter ohne Vorurteile, aber ich habe mich ja gerade selbst überführt. Zu schade, ich denke manchmal auch so in alten Bildern, obwohl ich das gar nicht will. Liebe Grüße von Heike

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  4. Das ist so heute, die Menschen werden älter. Aber anders als früher. Heute lebt man bunt, divers und versucht so gut es geht den technischen Fortschritt auf die Reihe zu bekommen. Man reist in fremde Länder, verbringt da vll sogar sein Leben als Rentner oder den kalten Winter hier. Aber es nicht bei allen so. Manche kümmern sich lieber um Haus und Hof und Familie und sind auch ganz zufrieden. Es ist schön das jeder sein Leben nach seinen Wünschen leben kann, solange es die Gesundheit zulässt. Jeder will alt werden, aber keiner will alt sein!

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    1. Alles ist gut und richtig, wenn es sich gut und richtig anfühlt. Wer weiß, was in der Zukunft als Aufgaben auf uns zu kommt. Ich denke, wir werden wirklich sehr gebraucht: unser altes Wissen von früher. Unsere Fähigkeiten, noch im Garten Gemüse und Kartoffeln anzubauen. Unsere Gaben, mit wenig auszukommen und Klamotten zu stopfen.... Liebe Grüße von Heike

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  5. Wie schön und trefflich beschrieben - hätte mir auch passieren können... Und auch der Spruch zur hochgezogenen Badehose - grins - erinnert mich an Ina Müller die sagt, dass wir froh sein können, dass wir Arme haben - sonst ginge mache Hose bis zur Halskrause... lieb Grüße aus der alten Heimat...

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    1. Elfriede: Ich merke, wir sind beide Ina Müller Fans. Wie schön!!! Liebe Grüße von Heike

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  6. Ich bin 79 Jahre, aber ich fühle mich als wäre ich erst 50 Jahre, weil mein Herz wieder im normalen Rhythmus schlägt. Meine liebe Frau umsorgt mich schon über 58 Jahre

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    1. Und wer umsorgt die Ehefrau? Zwinker - zwinker??? Liebe Grüße von Heike Schmid

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