Von Menschen und Erdbeeren

Vor unserem Edeka in Engelsby steht eine riesige, begehbare Erdbeere. Daraus verkaufen freundliche Leute ihre super frische Ware. Zunächst waren es ausschließlich Erdbeeren, jetzt gibt es auch Kirschen.
An einem Samstag Vormittag strahlten die Früchte mich derartig an, dass ich einfach mal 2 Kilo kaufte in einem Träger. Ich drehte mich um, da war ein altes Ehepaar: ein Mann in einem Rollstuhl - muffliges Gesicht, seine ebenso alte und erschreckend dünne Frau schob ihn. Er redete mit ihr in furchtbar ruppigem Ton. Ich lief an den beiden vorbei, drehte mich um und fragte: "Möchten Sie wohl mal ne Erdbeere probieren?" - "Nein, nein", wehrten sie ab. Ich suchte die schönsten aus, gab zunächst dem Mann eine: "Gucken Sie mal, da kann man doch gar nicht Nein sagen, oder?" Zögernd nahm er sie an. - "Und Sie kriegen selbstverständlich auch eine", sagte ich und drückte der Frau eine in die Hand. Ich nahm mir auch eine, wir kauten alle drei.
"Leben ist gar nicht so einfach, oder?" begann ich das Gespräch. Der Frau kamen die Tränen. "Nein, es ist überhaupt nicht einfach. Und manchmal denke ich, ich kann das alles nicht schaffen: mein Mann kann nicht mehr laufen, wir wohnen in unserem großen Haus mit Garten. Er kann nicht mehr nach oben. Er braucht so viel Pflege. Ich bin doch auch schon 85. Ich kann das alles fast nicht mehr bewältigen. Aber ich darf ja nicht klagen. Wenn ich klage, dann sagen unsere Kinder: Nun geht doch in ein Heim." 
"Aber das wollen Sie nicht. Sie wollen selbst bestimmt in Ihren eigenen 4 Wänden weiterleben können." -  "Genau, und nicht in einem Heim, wo einem von A bis Z vorgeschrieben wird, wann man isst und wie spät man ins Bett zu gehen hat. Aber das verstehen die Kinder nicht. Oder sie wollen es nicht verstehen."
"Verstehen sie erst, wenn sie selber alt sind." Wir schwiegen alle drei eine Weile, dann sagte sie lächelnd: "Danke für Ihre Zeit. Es hat so gut getan, einfach mal zu reden. Was Erdbeeren  auslösen können." Ich wünschte den beiden alles Gute und winkte ihnen zum Abschied nach - mit Tränen in den Augen. 

Du sollst Vater und Mutter ehren, heißt es in den 10 Geboten. Und ich denke an die Abschiede von meinen Eltern, an die lange Pflegebedürftigkeit meiner Mutter. War ich nicht auch eine ungeduldige Tochter, die ihren Eltern schnell daher gesagte, aber nichtsnutzige Ratschläge gab? Es ist zu spät, beide sind nicht mehr. Haben wir genug Erdbeeren zusammen gegessen? Habe ich genug auf sie gehört? Auf ihre Bedürfnisse, als die Kraft weg war? Vermutlich nicht. Volle Berufstätigkeit, Eltern, die 150 km weit weg wohnten und immer weniger selbständig ihr Leben meistern konnten. Das war reiner Stress für mich: mich verantwortlich fühlen - aber nie richtig Zeit haben. Immer hin- und hergerissen zu sein. Und immer hatte ich das Gefühl: ich bin am falschen Ort. War ich in Nordhorn, hatte ich ein schlechtes Gewissen meinen Kirchengemeinden gegenüber. War ich in Ostfriesland, hatte ich ein schlechtes Gewissen meinen Eltern gegenüber. Es hat so unfassbar viel Kraft gekostet und mich fast zerrissen.
Ja, was Erdbeeren auslösen: sie bringen mich zum Nachdenken über mich und mein Verhalten. Und was wird sein, wenn ich alt bin? 
Tipp für heute: immer genug Erdbeeren essen und dabei nachdenkliche Gespräche starten. Vielleicht einfach mal Leute ansprechen, es geschehen Wunder. 




Kommentare

  1. Wie traurig und Gedankenlos von den Kindern. Ich wünsche dem Paar alles Gute.

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