Grenzen - diese und jene



Grenzen gehören zu jedem Leben - zu meinem gehören sie ganz besonders. Ich habe meine ersten 19 Lebensjahre ganz dicht an der Grenze zu den Niederlanden verbracht. Und jetzt - in meinem Ruhestand - lebe ich wieder an einer Grenze. Es ist die zu Dänemark. 

Ich möchte erzählen von früher, als ich noch ein Kind war. Erzählen über die Grenze zu den Niederlanden - damals, als es noch keinen Euro gab, als man in Gulden bezahlte oder die Frage stellte: Mag ik ook met Duits Geld betalen? Und über eine ganz andere Grenze möchte ich berichten.

Einmal in der Woche fuhr ich mit meinem Opa Johann nach Holland. Ich war klein und saß hinten auf dem Fahrrad in einem schwarzen Metallsitz. Für meinen Popo gab es immer ein kleines Kissen. Zur Grenze waren es ca. 9 km, eine gute halbe Stunde per Rad. Dort kauften wir Tee, Kaffee und Butter. Geld war knapp damals - um 1965 - und in Holland waren diese Dinge preiswerter als in Nordhorn.  Wir durften als Grenzbewohner allerdings nicht viel mitnehmen, dafür fuhren wir halt öfter. 

Wir wurden an der Grenze regelmäßig  kontrolliert: Pass vorzeigen - und dann die Frage: Haben Sie was zu verzollen? Die Taschen wurden immer gründlich durchgesehen.

Opa kaufte jedes Mal noch etwas für mich: eine kleine Spitztüte mit Zuckerherzen in Pastelltönen. Eins bekam ich, bevor wir zurückfuhren, eins, wenn wir zu Hause ankamen, und dann jeden Tag eins. Wenn die Tüte leer war, war es auch wieder Zeit für eine neue Tour zur Grenze. Dann kam das großen Herrenrad aus dem Schuppen, ich hatte das Kissen unterm Arm. Opa setzte mich aufs Rad, dann ging es wieder los. In meinen Erinnerungen war immer schönes Wetter. 

Ich habe meinen Opa geliebt: wir machten häufig was zusammen. Sonntags vormittags zum Beispiel fuhr er auch mit mir auf dem Rad. Erst machten wir eine Tour am Kanal entlang bis nach Altendorf. Dann kehrten wir auf dem Rückweg bei seinem Vetter ein. Ein Bier für ihn - eine Sinalco für mich. Er rauchte ein paar Zigaretten, die beiden Männer unterhielten sich. Ich saß auf einem furchtbar hohen Stuhl und durfte mir aus einem großen Glas mit Drehknopf rote Zuckernüsse nehmen. Abenteuer pur war das für mich. Dann ging es wieder nach Hause.
Aber die Fahrten zur Grenze waren das Highlight für mich: Mit Gulden bezahlen, Männer in Uniform, die Kontrollen - das war große, weite und fremde Welt für mich.

Ich wusste damals nicht, dass es noch eine andere Grenze gibt. Doch die lernte ich bald schmerzhaft kennen: an einem Samstag war mein Opa nicht wie sonst. Er wollte nicht mit mir spielen. Er legte sich ins Bett, dann aufs Sofa, er setzte sich auf einen Stuhl, stand auf, dann legte er sich wieder hin. Sie hatten den Arzt für ihn gerufen: Opa kannte ihn gut, er war die ersten Jahr mit ihm zusammen zur Schule gegangen. Der Arzt riet, Opa solle ins Krankenhaus. Aber Opa winkte ab. Nachmittags saß ich still neben ihm auf dem Sofa im kleinen Wohnzimmer. Er gab plötzlich komische Geräusche von sich. Dann sackte er zusammen. Ich rief nach meiner Oma - und dann ist die Erinnerung nur noch ruckartig: Oma, Eltern, Nachbarn, Aufregung, Tränen, der Arzt kam wieder - und ich wurde rausgeschoben: "Geh du jetzt draußen spielen." Alle weinten. Ich verstand nicht, warum. 
Dann kam ein langes, schwarzes Auto, Männer brachten eine Kiste rein. Ich durfte noch nicht mal gucken. Die Altendorfer Verwandtschaft kam: Uroma allen voran, alle haben geweint.  Abends, als meine Mutter mich in Bett gebracht hat, habe ich sie gefragt: "Wann kommt Opa denn wieder?"  "Opa kommt nie wieder", schluchzte Mama. Ich begriff nichts. 
Da war sie also: die andere Grenze. Die ich bisher noch nicht kennengelernt hatte. 

Opa wurde nur 53 Jahre alt - und wir hatten nur 6 Jahre zusammen. Da kam der Herzinfarkt und riss ihn weg.

HERR, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden (Psalm 90,12) 


Quelle Bild: Pixabay


Kommentare

  1. Liebe Heike,
    eine rührende Geschichte, die mich nachdenklich macht.
    Nur allzu oft nehmen wir unser Leben als Selbstverständlichkeit hin.
    Jeden Tag können wir uns überlegen wie wir den Tag füllen wollen - mit lieben Menschen, guten Gesprächen, der Familie, unserer Arbeit usw.
    Und dann ist es plötzlich vorbei - eine lebensbedrohende Erkrankung kehrt in unser Leben. Von liebgewonnenen Menschen müssen wir uns verabschieden, manchmal geht es sehr schnell, oder es bleibt noch ein bisschen gemeinsame Zeit.
    Irgendwann hat man nur noch diese Erinnerungen und kann sich sehr glücklich schätzen diese zu haben.
    Ich habe auch solche wunderbaren Erinnerungen an meine Oma Lina. Sie war ein wichtiger Bestandteil meines Lebens bis zu meinem 19. Lebensjahr. Und wie oft denke ich an sie in liebevoller Erinnerung. Ich bin froh, dass ich ihre Enkelin sein durfte und sie eine wichtige Bezugsperson für mich war.
    Oma ist nun schon über 20 Jahre nicht mehr hier, aber in meinem Herzen hat sie einen festen Platz und der bleibt für immer ❤

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    1. Liebe Birgit, Omas sind was ganz Wertvolles in dieser Welt. Sie haben Zeit und gute Nerven, wenn Eltern in ihrem Lebensalltag quasi untergehen. Ich habe auch viele solche Erinnerungen. Dass mein Opa so früh gehen musste, gehört zum Schmerzhaften. Besonders der Umgang mit mir damals, die ich mit meinen 6 Jahren überhaupt noch nicht wusste, was Tod ist. Aber ich hatte noch eine Oma, eine Uroma und einen Uropa, mit dem ich sehr viel unternahm. Sie haben mich sehr geprägt. Und wie Du bin ich voller schöner Erinnerungen. Liebe Grüße von Heike

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  2. So schön geschrieben, vielen Dank.

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    1. Dankeschön für die lieben Worte. Herzliche Grüße von Heike Schmid

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  3. Liebe Heike,
    diese Grenzen sind die schlimmsten. Ich habe schon so oft in meinem Leben mit den Grenzen Kontakt gehabt und dabei bin ich erst 47 Jahre.

    Beide Omas und Opas, dann meine Mutter mit 60 Jahren und zu guter letzt mein Mann und das mit 49 Jahren.

    Ich hasse diese Grenze und doch weiß ich, daß sie zum Leben dazugehört. Ich kann nicht unbedingt sagen, das ich an Gott glaube, aber ich weiß tief in meinem Herzen, daß wir uns alle eines Tages wieder sehen werden, wenn ich ich über die Grenze gehe und das gibt mir Trost, diese ganzen Verluste zu überleben

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    1. Ich weiß nicht, wo ich wäre, wenn ich so viel Leid erlebt hätte. Wie ich diese Verluste hätte überstehen können. In meiner Dienstzeit war ich mit Leuten oft an Grenzen. Oft habe ich mich gefragt: woher kommt jetzt die Kraft, das zu bewältigen? Wenn ein Ehepartner/eine Partnerin viel zu früh gehen musste, wenn ein Kind starb. Ich werde nie die weißen, kleinen Särge vergessen, die dann bei Beerdigungen in den Kirchen standen. Wie bewältigt man Leid? Was hat man als "Handwerkzeug" in seiner Seele, um in der Folgezeit irgendwie klarzukommen? Fromme Worte wirken oft wie Trostpflaster, die nichts bringen. Manches Wort trägt, manches ist wie ein Schlag ins Gesicht. Überhaupt sich wieder aufrappeln, aufstehen, weiter gehen - das ist ein wahnsinnig schwerer Schritt und kostet so viel Kraft. Und dann die Frage: Für wen? Wenn der Lebensinhalt einem so weg gebrochen ist. Für die Kinder, die noch viel zu klein sind. Für mich selbst, weil es mein Lebensgeschenk ist. Das zwar im Moment total verdunkelt ist - aber ich hoffe doch auf Licht. - Ach Mensch, Leben ist manchmal so eine Katastrophe. Ich wünsche dir ganz viel Kraft. Du hast schon viel geschafft. Liebe Grüße von Heike

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  4. Liebe Heike, man kann real dabei sein - deine Erinnerung teilen. Mir ging es damals so - als meine Oma starb. Ich habe mich heimlich zu ihr geschlichen, als sie oben in ihrem Bett lag und unten alle traurig saßen und besprochen haben, wie es weitergeht... Sie war doch meine Oma - mit langem geflochtenen Zopf (ich habe so oft zugeschaut, wie sie ihre Frisur gesteckt hat) und nun friedlich die Augen geschlossen - die Haut nicht mehr warm - mein erster Kontakt mit jemandem, der die andere Seite, von der so viel und leuchtend gesprochen wurde, erreicht hat. Ich habe mich danach oft gefragt, ob sie nun mit Opa wieder gemeinsam Buttermilchbrei isst... Einige Ereignisse begleiten einen ein Leben lang ...

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  5. Liebe Elfriede R., danke für deine Worte - für deine Erinnerungen. Mehrere von uns teilen die Erfahrung: mit dem Tod durften wir als Kinder nicht konfrontiert werden. Angeblich wollte man uns schützen. Ich denke aber, unsere Eltern/unsere Familien waren selber so hilflos angesichts des Todes, dass sie ihnen die Trauer die Worte der Erklärung für uns nahm. Sie versteckten sich. Sie versteckten den Tod vor uns. Ich habe viele schlimme Geschichten gehört, was Kindern im Zusammenhang mit dem Tod eines nahen Angehörigen alles vorenthalten wurde. Alles kommt wieder, kommt wie ein Gummiband ins unser Gesicht zurück gefletscht. Dabei hatten wir sie so liebt - und auf einmal waren sie nicht mehr da. Ein schöner Gedanke, dass Oma und Opa gemeinsam im Himmel Buttermilchbrei essen. Klingt wie ein Buchtitel. Danke dafür. Liebe Grüße von Heike

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