Vom Gottesdienst

Es war wieder so ein Gottesdienst: meine Seele ging hungrig aus der Kirche. Ich war so bedürftig hingegangen: Hungrig nach warmen und tröstenden Worten, nach Gemeinschaft, nach guten Liedern, nach Gebeten, von denen ich mich abgeholt und angesprochen fühlte. Ich hatte so eine Sehnsucht – und sie war nach dem Gottesdienst noch genauso da. Kleinlaut fragte ich mich beim Rausgehen: Wie oft sind Menschen aus deinen Gottesdiensten hungrig rausgegangen. Und ich hatte nichts zu essen für eure Seelen? Wie oft ist das wohl passiert? Weil Gottesdienste mit zu heißer Nadel gestrickt waren, weil ich mir nicht genug Zeit genommen hatte, weil ich abgelenkt war, weil das Bibelwort und ich nicht zueinander gefunden hatten… … …

Ich ging also aus der Kirche – nicht glücklich.

Und dann war da vor der Kirche diese Frau, eine sehr aufrechte, schmale alte Dame, die ihr Fahrrad aufschließen wollte. „Ach, Sie sind auch mit dem Rad? Ich fahre ja immer Fahrrad, mein Auto habe ich meiner Enkelin geschenkt. Ich fahre nur noch per Rad oder per Bus. Ich bin jeden Tag auf dem Friedhof. Mein Mann liegt hier. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. War mit dem E-Bike unterwegs. Ein Taxi hat ihn voll erwischt. Er hatte keinen Helm auf. - Darum will ich kein E-Bike.“
Was für ein Schwall an Worten.
Dann sah sie mir direkt in die Augen: „Wollen Sie mal das Grab meines Mannes sehen?“ Warum nicht, dachte ich.
Sie ging sehr zügig voran. Das Grab war unter einer riesigen Nordmann-Tanne. Die kenne ich sonst nur als Weihnachtsbaum.
Auf dem Grab mindestens 5 Schälchen mit Wasser für Vögel – und noch eine hohe  Vogeltränke. „Jeden Tag gehe ich hierher. Wissen Sie, mein Mann ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. War mit dem E-Bike unterwegs...“
Dieselben Worte wieder. Da wusste ich: ein Schleier lag auf ihrem Denken. Das, was sie gerade gesagt hatte, hatte sie vergessen. Aber das, was früher war, wusste sie genau.
„Ich bin ja ein Flüchtling", sagte sie. „Ich komme aus Pommern. Meine Eltern, meine 2 älteren Geschwister und ich, wir sind zunächst am Schalsee untergebracht worden.  Heiligabend 1946 war es so bitterkalt, das Wasser war eingefroren. Mein Vater hat meinen Bruder und meine Schwester gebeten, schnell Wasser aus dem See zu holen. - Aber sie kamen nicht wieder. Jemand hat die Botschaft gebracht: die Kinder sind im See ertrunken. Meine Eltern haben alles verloren: Haus und Hof und ihr altes Leben, in Pommern schon eine Tochter an Typhus. Und dann auch noch meinen älteren Bruder und meine ältere Schwester. Die haben wochenlang nur geweint. Werde ich nie vergessen“, sagte sie.

Wir kamen wieder zur Kirche. Sie schloss ihr Rad auf. „Mein Auto habe ich meiner Enkelin geschenkt, ich fahre nur noch per Rad oder per Bus.“

Und ich dachte: der wirkliche Gottesdienst findet heute hinterher statt. Nach dem Orgelnachspiel. Draußen vor der Kirche. Mit der Frau, die so viel vergisst, aber niemals das, was ihr so weh getan hat. Sie konnte das noch mal wieder erzählen – ich hörte zu und wurde klein. Was für Leiden, was für Erlebnisse. Wo müssen manche Leute durch. Und sind doch nicht zerbrochen. Sind wieder aufgestanden und weitergegangen. Und ich jaule innerlich, dass meine Seele hungrig geblieben ist? Heike: steh auf, suche weiter – und du wirst finden, habe ich gehört.

„Wie unergründlich sind Gottes Entscheidungen und wie unerforschlich seine Wege!“ aus Römer 11 nach der Basisbibel


Foto: Pixabay

Kommentare

  1. Oh ja man vergisst leider sooo oft wie gut es einem geht, vielen lieben Dank für die Zeilen, auch ich bin im Moment mit mir und den Meinen nicht so zufrieden,
    muss aber sagen wir können ganz Dankbar sein. Liebe Grüße und eine schöne Woche!!!




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    1. Es war genau das, was ich an dem für mich trostlosen Sonntag Vormittag brauchte: eine Portion in Demut. Liebe Grüße!

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    2. Danke, ja, man vergisst so oft - und wird so leicht undankbar. Liebe Grüße

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  2. Moin Heike, ja so etwas ist nicht einfach, wenn man das erlebt hat, bleibt gesund liebe Grüße Hanne und Theo 🙋‍♀️

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    1. Liebe und herzliche Grüße an Euch - ja, das war eine wirklich schwer zu verdauende Geschichte.

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  3. Eine schöne Geschichte so ist nun mal das Leben wieviel Leid kann ein Mensch ertragen 🙏

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    1. Manche müssen viel zu viel ertragen, oder? Liebe Grüße!

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